Liebe Leser*innen,
Zeitsprung in die Vergangenheit. Ich sitze mit Alba in Epecuen der versunkenen, wieder aufgetauchten Stadt und wir unterhalten uns über Gott und die Welt. Ich erkläre, dass ich zwar ein großes Stück Kontrolle aufgegeben habe, aber ich kann mich nicht davon lösen, zumindest ein bisschen vorauszuplanen, sonst habe ich einfach zu sehr Angst, dass etwas schiefgeht. Egal ob hier auf der Reise… oder im richtigen Leben. Alba nickt. Es ist schwer, das Steuerrad vollkommen loszulassen. Und es muss auch nicht sein. Aber die Wahrheit ist, die einzige, die mir Steine die mich daran hindert richtig frei zu sein, bin ich selbst. selbst wenn etwas schiefläuft: Es gibt immer eine Lösung, man muss nur ruhig bleiben und einen Schritt nach dem anderen machen.
Zeitsprung zurück in die Gegenwart. Ich komme in Puerto Madryn an und frage am Busschalter, ob es möglich ist, dass mich einer der Fernbusse morgen raus bis an die Fernstraße bringt. Die Dame nickt, für einen Minimalbetrag, kein Problem. Ich nicke ebenfalls und gehe dann in mein Hostel, dass sogar richtig schön ist. Schade, dass ich nur eine Nacht bleibe. Vor allem, nachdem mich im Supermarkt der schönste Argentinier der Welt angesprochen hat… hach, das Leben ist gemein!
Am nächsten Morgen bin ich ein bisschen nervös, doch mit Albas Mut im Herzen gehe ich zum Bus Terminal, kaufe mir ein „kleines Ticket“ und lasse mich von dem Bus vor der Stadt an der Fernstraße absetzen. Dann halte ich meinen Supermarktkarton hoch… und den Daumen raus.
Ehrlich Leute, das ist das erste Mal, dass ich sowas mache und ich fühle mich nicht wirklich wohl dabei. Ich fand’s schon immer respekteinflößend zu trampen und ich persönlich würde nie jemanden mitnehmen, man weiß ja nie, wen man sich da ins Auto holt. Dementsprechend blöd komme ich mir vor, als ich nun selbst den Daumen raushalte. Trotzdem bin ich viel ruhiger, als ich es noch vor ein paar Monaten war, wo ich nicht mal im Traum auf die Idee gekommen wäre zu trampen. Aber Schluss mit planen, auch mit kleinen Schritten! Ich habe keinen Bus, kein Hostel, nichts gebucht, mein Internet ist aufgebraucht, ich stehe an einer Fernstraße, Autos und Lkws rasen an mir vorbei, es gibt nur mich, meine Rucksäcke, mein Schild (USHUAIA) und die Welt. Die absolute Freiheit.
Und die 90-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass ich da keine halbe Stunde stehe. Ich mein, mal ehrlich, welcher Argentinier fährt denn an einer blonden, weißen Backpackerin vorbei? Tatsächlich hält nach etwa zwanzig Minuten ein Lkw mit zwei Wägen. Er fährt bis Comodoro Rivadavia, bis dahin kann er mich mitnehmen. Ich habe Albas Tipps im Hinterkopf: Erstens: An der Fernstraße stehen. Zweitens: Kenne deinen Weg und die Zwischenstopps. Comodoro Rivadavia ist tatsächlich ziemlich südlich und ich bin froh, dass mich gleich jemand so weit mitnehmen kann. Ich packe meine Rucksäcke und steige zum ersten Mal in meinem Leben in einen Lkw. Der Fahrer heißt Luiz, wir haben Obst und Gemüse im Gepäck und fahren in seine Verdularía (Obst- und Gemüsehandel). Er pendelt immer zwischen Comodoro und Mendoza.
Mitgenommen hat er mich hauptsächlich, weil er ganz schön müde ist und ein bisschen Ablenkung gebrauchen kann. Ist mir ganz recht, da kann ich Spanisch üben. Wir plaudern über alles Mögliche und er hält sogar kurz an, damit ich mir ein besonderes Monument aus der Nähe anschauen kann. Die Region ist bekannt für ihre vielen Fossilien, deshalb hat man einen lebensgroßen Brachiosaurus aufgestellt, davon sollte ich mal ein Foto machen. Ich springe ab, knipse ein Bild und klettere wieder hoch.

Luiz ist Ende fünfzig, hat zwei Söhne und einer davon hat auch schon zwei Kinder. Alle sind am Familiengeschäft beteiligt, Obst und Gemüse günstig in Mendoza einkaufen, hierher schaffen und teurer verkaufen. Während wir erzählen, gießt Luiz gekonnt Mate auf. Bei jedem Stopp (was nicht viele sind) kauft er Essen für sich und mich, während ich heißes Wasser für Mate hole. Es funktioniert perfekt. Mein Sprung ins kalte Wasser war ein voller Erfolg und ich frage mich, warum ich mich jemals wieder in einen teuren, miefigen und überfüllten Bus quetschen soll, während ich hier einen Premiumplatz mit Essen und Mate kriege… umsonst.

Wir fahren über 800 km bis in nach Comodoro durch die ewig gleiche Pampa. Unterbrochen nur hin und wieder von kleinen Sierras, ist die Landschaft wirklich fast immer gleich, trocken, spärlich mit Büschen bewachsen und sandig. Ich sehe hunderte Guanacos am Straßenrand. Mit Luiz unterhalte ich mich über alles mögliche und er hält mir einen langen Vortrag über argentinische Politik, nachdem ich gefragt habe. Ehrlicherweise habe ich die Hälfte nicht verstanden, es war ziemlich anstrengend die genauen Verhältnisse auf Spanisch nachzuvollziehen und Luiz hat eine recht eindeutige Meinung: Der Weg aus der Wirtschaftskrise ist der Populismus. Ich höre interessiert zu, auch wenn ich anderer Meinung bin, aber die Diskussion tue ich mir jetzt nicht an.
Die Industriestadt Comodoro Rivadavia hat sich um ein reichhaltiges Erdölvorkommen angesiedelt, ist zwar nicht besonders schön, aber reich. Hier will Luiz mich absetzen, doch dann erhält er einen Anruf von einem Kollegen. Vor etwa einer Stunde hat er gefragt, ob jemand heute noch weiter in Richtung Süden fährt, der mich mitnehmen könnte und tatsächlich gibt es jemanden, er weiß aber noch nicht, ob er mich mitnehmen kann. Spontan steige ich also wieder bei Luiz ein und wir fahren zu seinem Gemüseladen, wo der Lkw abgeladen wird. Dann kommt die Nachricht, leider kann mich der Mann doch nicht mitnehmen und ich bin gestrandet.
Hier stehe ich nun, in einem Gemüseladen in Argentinien, in einer Stadt die ich nicht kenne, ohne Internet, ohne Unterkunft und oder Plan für die Weiterreise… absolute Freiheit – die Kehrseite. Luiz hat mir versprochen, dass er mich zum Busterminal bringt, doch zuerst muss das Gemüse verstaut werden. Bis dahin sitze ich hier fest. Glaubt’s mir, ich bin in dem Moment alles andere als entspannt und ärgere mich über meine bescheuerte Abenteuerlust und diesen absurden Drang nach absoluter Freiheit. Am liebsten würde ich sofort zum Busterminal, um zu sehen, ob heute noch eine Verbindung Richtung Süden geht, oder ob ich mir ein Hotel suchen muss, aber ohne Internet keine Chance. Hinzu kommt, dass ich unglaublich müde bin. Dafür unterhalte ich mich sehr gut mit Luiz Exfrau und seinem Sohn, die auch im Familienbetrieb mitarbeiten.
Nach zwei Stunden ist alles fertig und ich bekomme meine Fahrgelegenheit zum Terminal. Weiter zu kommen, beruhigt mich wieder etwas. Und tatsächlich habe ich Glück. Nochmal zwei Stunden später fährt ein Bus nach Rio Gallegos und von dort aus gibt es eine Verbindung nach Ushuaia. Der Bus fährt 11 Stunden und ich schlafe den Großteil davon. In Rio Gallegos erfahre ich, dass der nächste Bus nach Ushuaia erst am nächsten Tag fährt, stört mich aber nicht weiter. Dritte Regel von Alba: Man braucht Zeit und muss flexibel sein. Ich suche mir ein kleines, günstiges Hotel, bekomme sogar ein Einzelzimmer zu einem wirklich guten Preis und schmeiße mich aufs Bett. Wie schön! Wie schön!! Ein Zimmer für mich allein. Vier Wände, in die niemand kommt, außer mir! Ich drehe das Schloss gleich vier Mal um und genieße es, Raum für mich allein zu haben. Das ist mein Highlight in Rio Gallegos und ich verbringe fast den kompletten Tag im Zimmer, bis auf ein paar kleine Einkäufe und das Abendessen. Die Stadt selbst ist ähnlich wie Comodoro nicht besonders sehenswert, da verpasse ich wenig, das Wetter ist auch ziemlich grau. Ich richte ein Chaos im Zimmer an, liege die ganze Zeit im Bett – ohne Hose – und freu mich, allein zu sein. Nicht falsch verstehen, ich mag das Hostelleben wirklich, aber man lernt den Wert der eigenen vier Wände im Wanderleben deutlich zu schätzen.
Am nächsten Morgen muss ich früh raus, um den Bus nach Ushuaia zu kriegen und muss mein kleines, bequemes Reich leider wieder verlassen. Um die Stadt selbst tut es mir aber nicht wirklich leid, da will ich wirklich nicht länger Zeit verbringen, also ab in den Süden. Zum Ende der Welt.
Und jetzt, wo ich erholt drauf zurückblicken kann, finde ich, dass mein Versuch mit den Trampen wirklich super geklappt hat. Ich bin sehr bequem, sehr weit gekommen, hab mir einen Haufen Geld gespart, neue Leute und eine neue Ecke des argentinischen Alltags kennengelernt und jede Stresssituation hat sich irgendwie gut aufgeklärt. Albas Idee vom Steuerrad loslassen war goldrichtig und ich fühle mich wieder ein bisschen stärker und unabhängiger. Das war nicht das letzte Mal, dass ich auf diese Art gereist bin.
Liebste Grüße
Eure Jana
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